„Im Weizenkorn als Keim einer neuen Pflanze sind alle Elemente der zukünftigen Weizenpflanze zwar angelegt, aber nicht enthalten. Auf fruchtbaren Boden fallend vergeht der Keim als Position und wird zur Weizenähre, ihrer eigenen Negation. Das Korn vergeht in diesem Prozess (negare), wächst über sich hinaus (elevare) und erhält sich (conservare)  – mit der Möglichkeit einer zukünftigen, vermehrten Reproduktion von neuen Weizenkörnern. Gelingt der Prozess der Befruchtung, so reproduziert sich die Pflanze in der Negation der Negation aufs Neue und vergeht selber.“ (Schwandt 2010: 40)

Der Begriff ‚Dialektik‘

In der griechischen Antike bezeichnet Dialektik eine Gesprächsform, die sich durch Rede und Gegenrede auszeichnet, durch dialogisches Abarbeiten von Widersprüchen, um dadurch zu einer neuen Erkenntnis zu gelangen. Die Widersprüche dabei sind jedoch keine willkürlichen, sondern schon in der Sache angelegte Gegensätze. Sie sind beide wahrer Ausdruck von realen Widersprüchen. So handelt es sich dabei zum Beispiel auch nicht um logische Widersprüche (bei sich widersprechenden Sätzen kann nur einer wahr sein). In der Dialektik geht es nicht darum, dass das eigene Argument oder die eigene Position ‚gewinnt‘, vielmehr ist sie eine Methode der Wahrheitsfindung.

Die Schritte eines dialektischen Prozesses können als Position/These (Setzung) – Negation/Antithese (Widerspruch) – Negation der Negation/Synthese (Aufhebung des Widerspruchs) beschrieben werden.  Der Widerspruch erfährt in gewisser Weise eine dreifache ‚Aufhebung‘:

  • Aufheben (conservare) im Sinne von Aufbewahren dessen, was in Position und Negation enthalten ist. Der Prozess ist ein gerichtetes Fortschreiten und nicht eine ‚anstatt-von‘-Entscheidung
  • Aufheben (elevare) im Sinne von Höherheben, denn es geht um neue Erkenntnisse, eine höhere Stufe des Wissens
  • Aufheben (negare) im Sinne von Auflösen, denn Position und Negation werden aufgelöst und durch neue Erkenntnis (Negation der Negation) ersetzt

Die neue Erkenntnis wird zur neuen Position, weswegen Dialektik zwangsläufig als Prozess zu betrachten ist.

Dialektisches Denken

In ihrer Anwendung in der Kritischen Theorie ist Dialektik jedoch keine reine Gesprächstechnik mehr. Sie ist vielmehr eine Form zu Denken und Darzustellen -mit Blick auf den Prozesscharakter von etwas, auf Spuren des Vergangenen sowie auf Zeichen des Zukünftigen.
So wird, in Anlehnung an Hegels Geschichtsphilosophie, die Weltgeschichte als dialektisch betrachtet. Ihre Entwicklung sei nichts zufälliges, sondern gekennzeichnet durch ständige Spannungen zwischen Position und Negation sowie der Aufhebung der ursprünglichen Widersprüche in neuer Erkenntnisse, beziehungsweise einem ‚Zustand höherer Ordnung‘.

„Dies tut Dialektik eben durch das Denken in Prozessen und Widersprüchen. Sie entwickelt […] einen Aspekt der Wirklichkeit aus einem anderen, statt willkürlich Objekte zu isolieren, formelhaft zu definieren und von der scheinbar sicheren Warte eines irgendwie außerhalb stehenden Subjekts aus zu klassifizieren. Immer erst das Ganze ist das Wahre, die Einbettung der Einzelphänomene in die Totalität.“ (Schwandt 2010: 42)


Warum nun dialektisch Denken?

In der ‚traditionellen Theorie‘, wie Horkheimer das zu Beginn der Frankfurter Schule gängige Wissenschaftsverständnis nennt, und besonders in den Naturwissenschaften, gelten Gesetze die ein dialektisches Denken nicht möglich machen: Das Gesetz der Widerspruchsfreiheit beispielsweise verlangt, dass von zwei widersprüchlichen Aussagen nur eine wahr sein kann. ‚Vielleicht‘, ‚kommt darauf an‘ oder ‚beides‘ sind spekulative Antworten. Um zu wissenschaftlich gesicherten Ergebnissen zu gelangen werden Forschungsobjekte in diesem Wissenschaftsverständnis isoliert und von störenden Wechselwirkungen mit anderen Phänomenen abgegrenzt betrachtet. Diese Denkweise ist damit dem dialektischen Denken vollkommen gegensätzlich.

„Die Differenz […] ist so groß, dass sich viele Wissenschaftler[*innen] und Philosoph[*innen] seit jeher weigern, Dialektik überhaupt als eine zulässige Denkweise anzuerkennen. Es mangelt [ihnen] in dieser Sichtweise an Widerspruchsfreiheit und Eindeutigkeit, womit Dialektik und ihre Erkenntnisse in den Bereich der gedanklichen Willkür […] gehörten, aber nicht in die Wissenschaft.“ (Schwandt 2010: 43f.)

Die bemängelte Widersprüchlichkeit ist jedoch gerade charakteristisch für eine dialektische Denkweise, welche damit die wirklichen Widersprüche in der Realität der Gesellschaft abbilden möchte. Ihrem Anspruch nach geht es um größte Genauigkeit und Gesamtheit bei der Betrachtung der Realität.

 

Aus: Schwandt, Michael (2010): Kritische Theorie. Eine Einführung. 2. Aufl. theorie.org. Stuttgart: Schmetterling Verlag. 38-44.